Islam und Koran

Tot geborene Kinder

Frage: Was ist das Urteil über Fehlgeburten oder Kinder, die tot auf die Welt kommen? Wäscht man diese Toten? Hält man das Totengebet für sie ab?
Antwort:
Wenn es sich um eine Fehlgeburt handelt, die vor dem vierten Schwangerschaftsmonat geschieht, wäscht man den Fötus nicht und hält kein rituelles Gebet ab. Man wickelt es in ein Tuch und begräbt es. Darüber gibt es keine Uneinigkeit. Bei Fehlgeburten im vierten Monaten oder danach gibt es jedoch zwei verschiedene Meinungen:
1. Wenn das Kind lebendig zur Welt kommt, wird es sowohl gewaschen als auch zeremoniell begraben. Darüber sind sich alle einig. Falls jedoch bei der Geburt kein Lebenszeichen zu erkennen ist, wird das Baby nach den Hanafiten, Imam Malik, el-Evzâî und Hasan-i Basrî gewaschen, das Totengebet wird jedoch nicht abgehalten. Wer diese Ansicht vertritt, nimmt folgende Aussage unseres Propheten als Grundlage:
,,Wenn ein Kind bei der Geburt schreit (also ein Lebenszeichen von sich gibt) und danach stirbt, dessen Totengebet wird abgehalten und man kann ihn beerben (Ebu Davud, Cenâiz, S. 44-45; Nesâî, Cenâiz, S. 26; Dârimî, Ferâiz, S. 47). “
Wie man sieht, gilt bei dieser Aussage des Propheten das Schreien/das Lebenszeichen des Kindes als Bedingung dafür, dass man das Totengebet abhält (Seyyid Sâbik, Fikhu’s-Sünne, 12, Müessesetu’r-Risâle, Beirut, 1996, Band 1, S. 277).
2. Es wird kein Unterschied zwischen einem tot geborenen und einem lebendig geborenen Kind gemacht; in beiden Fällen wird das Totengebet verrichtet. Ahmed b. Hanbel, Saîd b. Dschubeyr, Ibn Sîrîn und Ishâk b. Râheveyh sind dieser Meinung. Diese gehen davon aus, dass dem Kind die Seele im vierten Schwangerschaftsmonat eingehaucht wird. Der Fötus wird nämlich ab dem vierten Monat zu einem ganzen Menschen und wie bei einem Kind, das lebendig zur Welt kommt und danach stirbt, hält man das Totengebet ab. Die Vertreter dieser Meinung betonen außerdem, dass die oben angeführte Überlieferung ,,muzdarip” (leidend) [1] ist und der stärkeren Überlieferung über das Einhauchen der Seele widerspricht und dass man sie deshalb nicht als Beweis nehmen kann (Siehe Seyyid Sâbik, Fıkhu’s-Sünne, Bd. 1, S. 277).
Die letztere Ansicht entspricht dem Koran. Es ist nämlich ein Beschluss des Koran, dass die Seele des Kindes eingehaucht wird, sobald die körperliche Entwicklung voll ausgebildet ist und dass es ab diesem Zeitpunkt ein ganzer Mensch ist. Allah der Erhabene gebietet:
الَّذِي أَحْسَنَ كُلَّ شَيْءٍ خَلَقَهُ وَبَدَأَ خَلْقَ الْإِنسَانِ مِن طِينٍ. ثُمَّ جَعَلَ نَسْلَهُ مِن سُلَالَةٍ مِّن مَّاء مَّهِينٍ. ثُمَّ سَوَّاهُ وَنَفَخَ فِيهِ مِن رُّوحِهِ وَجَعَلَ لَكُمُ السَّمْعَ وَالْأَبْصَارَ وَالْأَفْئِدَةَ قَلِيلًا مَّا تَشْكُرُونَ.
,,Der alles vollkommen gemacht hat, was Er schuf. Und Er begann die Schöpfung des Menschen aus Ton. Dann bildete Er seine Nachkommenschaft aus dem Auszug einer verächtlichen Flüssigkeit. Dann formte Er ihn und hauchte ihm von Seinem Geiste ein. Und Er hat euch Ohren und Augen und Herzen gegeben. Wie wenig dankbar seid ihr! (Sedschde 7-9)”
Wenn man die Koranverse miteinander vergleicht, stellt man fest, dass die Seele in der 16. Woche eingehaucht wird. Allah der Erhabene sagt Folgendes:
وَوَصَّيْنَا الْإِنسَانَ بِوَالِدَيْهِ حَمَلَتْهُ أُمُّهُ وَهْنًا عَلَى وَهْنٍ وَفِصَالُهُ فِي عَامَيْنِ.
,,Und Wir haben dem Menschen für seine Eltern ans Herz gelegt – seine Mutter trug ihn in Schwäche über Schwäche, und seine Entwöhnung erforderte zwei Jahre (Luqman 31/14).”
وَوَصَّيْنَا الْإِنسَانَ بِوَالِدَيْهِ إِحْسَانًا حَمَلَتْهُ أُمُّهُ كُرْهًا وَوَضَعَتْهُ كُرْهًا وَحَمْلُهُ وَفِصَالُهُ ثَلَاثُونَ شَهْرًا.
,,Wir haben dem Menschen Güte gegen seine Eltern zur Pflicht gemacht. Seine Mutter trug ihn mit Schmerzen, und mit Schmerzen gebar sie ihn. Und ihn zu tragen und ihn zu entwöhnen erfordert dreißig Monate (Ahkâf 46/15).“
Die Stillzeit beträgt 24 Monate. Da die Stillzeit und die Zeitspanne, in der die Mutter das Kind als einen Menschen in ihrem Bauch trägt, zusammen 30 Monate betragen, wird klar, dass die hier erwähnte Dauer 6 Monate beträgt.
Die gesamte Schwangerschaft gilt als bisschen über 40 Wochen, also 282 Tage. Da die sechs Monate nach dem Mondkalender sind und wenn wir bedenken, dass die Hälfte 29 Tage betragen, macht das insgesamt 177 Tage. Wenn wir dies von 282 abziehen, bleiben 105 Tage übrig. Teilen wir das dann durch sieben, bleiben insgesamt 15 Wochen übrig. Danach kommt die 16. Woche. Die 16. Woche also, die der Beginn der 6 Monate ist, ist die Woche, in der dem Kind die Seele eingehaucht wird.
Der Koran nennt den Fötus ab diesem Zeitpunkt einen Menschen (insan). Folglich muss ab diesem Monat, wie die zweite Meinung vertritt, das Kind, wie alle anderen Menschen, gewaschen und zeremoniell beerdigt werden, auch wenn es tot zur Welt kommt.
[1] Eine Überlieferung, die in Bezug auf ihren Wortlaut oder ihre Überlieferungskette von einem oder mehreren Überlieferern so unterschiedlich überliefert wurde, dass man diese Versionen nicht unter einen Hut bringen kann.

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