Seit ca. 14 Jahrhunderten wird eine innerislamische Debatte darüber geführt, wie der Korantext in seiner Bandbreite richtig zu verstehen und welche Instrumentarien und Methoden vor allem am besten hierzu geeignet wären. Auch gegenwärtig werden noch zahlreiche wissenschaftliche Studien, sowie populärwissenschaftliche Werke darüber stetig publiziert. Die zentralen Überlegungen kreisen sich hauptsächlich um die folgenden Fragen:
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Wie soll der Koran ausgelegt werden?
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Gibt es eine einzige wahre Interpretation oder doch eine Vielzahl von wahren Interpretationen?
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Wenn es nur eine wahre Auslegung geben sollte, welche wäre diese dann?
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Wenn es jedoch im Gegensatz dazu doch eine Vielzahl von Auslegungsmöglichkeiten geben sollte, nach welchen Kriterien wären sie dann letztendlich zu definieren?
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Kann es überhaupt möglich sein, einen Text, der über 1400 Jahre alt ist, objektiv zu analysieren und zu verstehen?
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Oder ist von Anfang an jeder Versuch zur Gewinnung des objektiven Verstehens zum scheitern verurteilt?
Derzeit verdienen besonders zwei gegensätzliche Strömungen die Aufmerksamkeit innerhalb der Koran-Debatte. Die erste Bewegung ist unter anderem als die der Koraniten (el-Kur´an´iyyun) bekannt geworden und akzeptiert für ihr Tafsir-Verständnis nichts anderes als den Koran selbst.1 Die zweite Bewegung hält sich nicht nur an der gelebten Tradition (Sunna), sondern auch an dem schriftlich überlieferten Quellenmaterial fest. Ihre Herangehensweise wird im Grunde als die historisch–kritische Kontextualisierung bezeichnet.
Welchen Ansatz verfolgen die Koraniten und reicht tatsächlich der Koran für das Textverständnis allein aus?
In einer Anekdote wird ein Gespräch zwischen dem islamischen Gelehrten Mohammed Abduh (gest. 1905) und einem Pastor überliefert. An Abduh zugewendet fragte der Pastor sinngemäß: „Sie behaupten, dass alles im Koran enthalten ist. Können sie mir dann auch sagen, wie viel Brot aus einem Sack Mehl gebacken werden kann?“ Abduh antwortete nüchtern: „Ja, das steht auch im Koran.“ Der Pastor erwiderte: „Wie soll das denn gehen?“ Woraufhin Abduh Folgendes antwortete: „Der Koran sagt: ,Wenn ihr nicht wisst, fragt die Wissenden (16:43).‘ Deshalb würden wir zu einem erfahrenen Bäcker gehen und ihn schließlich fragen, wie viel Brot aus einem 50 Kg Mehlsack gewonnen werden kann.“2
Dementsprechend wären alle Formeln und Prinzipien explizit im Korantext enthalten, weshalb ihre Relevanz und Universalität zu keinem Zeitalter zu versiegen vermag. Des Weiteren soll der Koran in aller Deutlichkeit versichert haben, sein eigener Kommentator zu sein, wie dies nicht zuletzt aus den folgenden Stellen im Text ersichtlich wird:
- 25:33: „Und sie legen dir keinen Einwand vor, ohne dass Wir die Wahrheit und die schönste Erklärung brächten (ahsana tafsieran).“
- 11:1: „Ein Buch, dessen Verse vervollkommnet und dann im einzelnen erklärt worden sind, von einem Allweisen, Allkundigen.“
Der habilitierte Islamwissenschaftler Dr. Navid Kermani bestätigt den selbst reflektierenden Inhalt und weißt nachdrücklich auch auf den einzigartigen Charakter des Korans innerhalb der Heiligen Bücher hin: „Beim Koran kommt hinzu, dass es sich um einen in hohem Maße selbstreferentiellen Text handelt, einen Text, der sich an zahlreichen Stellen reflektiert, der sich kommentiert, der seine sprachliche Gestalt zum Thema macht, mehr als jede andere Schrift in der Geschichte der Weltreligionen.“3
Aus diesem Grund wäre es inadäquat, Sekundärquellen (Sira, Hadithe und Tafsir-Werke) zur Hilfe hinzuzuziehen. Außerdem wäre der Koran hierzu auch in diversen anderen Stellen sehr deutlich in seiner Intention, wie z.B in:
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„Wir haben in der Schrift nichts übergangen (6:38).“
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„Und wir haben die Schrift auf dich hinabgesandt, um alles klarzulegen, und als Rechtleitung, Barmherzigkeit und Frohbotschaft für die, die sich (uns) ergeben haben (16:89).“
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„Es ist keine erdichtete Rede, sondern eine Bestätigung dessen, was ihm vorausging, und eine deutliche Darlegung aller Dinge und eine Führung und eine Barmherzigkeit für ein gläubiges Volk (12:111). „
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„Und wir haben die Schrift nur darum zu dir hinabgesandt, damit du ihnen klarmachst, worüber sie uneins waren, und als Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben (16:43).“ Ohne Zweifel könnten hier noch weitere Koranverse aufgeführt werden.
Bezugnehmend auf diese und weitere Koranverse wird deshalb von den Koraniten geschlussfolgert, dass der Koran selbst in Bezug auf die Orthopraxie, sowie einschließlich seiner Deutung und Erklärung vollkommen auszureichen habe. Denn die Religion des Islam fand mit dem Abschluss des Korans ihren vollkommenen Höhepunkt:
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„Heute habe ich euch eure Religion vervollständigt und meine Gnade an euch vollendet, und den Islam als Religion gutgeheißen (5:3).“
Hiernach wäre die Religion in ihrer Komprimiertheit durch den Abschluss der Offenbarung ewig vervollständigt. Der türkische Koranexeget und Herausgeber eines umfangreichen Tafsir-Werkes Prof. Bayraktar Bayrakli, erläutert den Koranvers wie folgt: „In dem Vers ,Religion vervollständigt‘ kommt der Begriff ,Din‘ vor, was zweifelsohne ein Synonym für den Koran darstellt. Der Erhabene Gott sagt in diesem Koranvers, dass Er es selbst vervollkommnet habe. Wie könnte dann einer herkommen und behaupten, dass der Koran unvollständig sei und einige Details in ihm fehlen würden?“4
Vor allem kritisiert Bayrakli die grundsätzliche Einstellung jener Betrachtungsweise, wonach die religiösen Normen nicht adäquat im Koran, sondern autoritativ durch die Sekundärquellen zu ergründen seien. Dazu wird analog folgendes von ihm nachdrücklich bemerkt: „Wenn es nicht im Koran zu finden ist, dann schaut man gewöhnlich auf die Sunna (Hadithe), wenn es in beiden nicht aufzufinden ist, dann wird gezwungenermaßen auf den Idschma (Konsensus der islamischen Rechtsgelehrten) geschaut. Wenn jedoch in den drei aufgeführten Punkten auch keine Antwort gefunden werden kann, erst dann wird letztendlich auf den Idschtihad (die Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung) zurückgegriffen […] Das würde nichts anderes bedeuten als dass die ersten drei Punkte unvollständig sind und dass man deshalb auch unweigerlich auf den Idschtihad angewiesen ist […] Zu solch einem fatalen Lernvorgang können wir nur sagen, dass sie falsch ist!“5
Denn für den Koranexegeten Bayrakli würde solch eine Annahme dem Wortlaut des Korans unzweideutig widersprechen, da dieser doch selber versichert hat: „Heute habe ich euch eure Religion vervollständigt (5:3).“ Somit würde grundsätzlich einzig und allein nur der Koran die religiösen Normen bestimmen. Alles andere wäre im Grunde genommen nichts anderes als Menschenwerk und dementsprechend dem natürlichen Hergang der sich daraus resultierenden Fehlern unterworfen.
Da Gott der alleinige Urheber der Religion ist, bleiben die Erläuterungen des Koran, einschließlich seiner Instruktionen, nur Ihm allein vorbehalten. Insofern besitzt einzig und allein Gott ein Monopol auf die Deutung des Korans. Aus diesem Grund fordert Prof. Yasar Nuri Öztürk eine unabdingbare „Rückkehr zum Koran“, indem das von den Rechtsgelehrten über Jahrhunderte hinweg missbrauchte Monopol auf die Religion im lichte des Koran, wieder auf Gott übertragen werden soll: „Dem Koran zufolge ist die Religion eine Institution, auf die Gott das Monopol hat.“6
Dr. Zeki Bayraktar stellt unmissverständlich dar, wonach nirgends der Koran dazu anleitet, seinen Heil außerhalb von ihm zu suchen. Im Gegenteil, sämtliche Koranverse weisen unzweifelhaft darauf hin, dass die Gläubigen nur vom Wissen im Koran verantwortlich sind und nur dieser in allen religiösen Fragen die absolute Verbindlichkeit und Autorität darstellt:
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„Folgt dem, was zu euch von eurem Herrn herabgesandt wurde, und folgt keinen anderen Beschützern außer Ihm. Wie wenig seid ihr (dessen) eingedenk (7:3).“
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„Er hat mir diesen Koran offenbart, damit ich euch und alle warne, die davon Kenntnis nehmen (6:19).“
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„Und wahrlich, Wir hatten ihnen ein Buch gebracht, das Wir mit Wissen darlegten als Richtschnur und Barmherzigkeit für Leute, die gläubig sind (7:52).“7
Ein weiterer essenzieller Punkt, weshalb nur der Koran für die Koraniten verbindlich ist, wird mit der Begründung der unzureichenden Glaubwürdigkeit aller Überlieferungen argumentiert. Die Mehrheit der islamischen Gelehrten gehen davon aus, dass die erste Niederschrift der Hadithe aufgrund eines Befehls vom ummayadischen Kalifen Abd al-Aziz (gest. 720) in Auftrag gegeben wurde. Denn der Kalif befürchtete, dass mit dem Ableben der Hadith-Kenner die Überlieferungen, die sie zu jenem Zeitpunkt scheinbar nur in ihrem Gedächtnis aufbewahrten, zeitweise verschwinden würden.8 Schon allein die Zeitspanne der Fixierung von mehreren Jahrzehnten für die schriftliche Aufzeichnung, stellt den Koraniten zufolge ein immenses Problem für ihre Authentizität dar.9 Darüber hinaus versichert der Koran den Gläubigen ausdrücklich, dass nur dieser durch die Gnade Gottes unversehrt über alle Generationen hinweg Verbleiben wird:
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„Wahrlich, Wir Selbst haben diese Ermahnung herabgesandt, und sicherlich werden Wir ihr Hüter sein (15:9).“
Stehen die Überlieferungen im Widerspruch zum Koran?
Eine weitere fundamentale Kritik der Koraniten besteht zudem auch darin, wonach in der Befolgung der Überlieferungen ein dem Koran diametral entgegengesetztes Religionsverständnis manifestiert wird. Konkret bedeutet es, dass das gesamte Kompendium der Hadithe nicht nur gegen die Intention des Koran, sondern vor allem auch gegen seinen Wortlaut gerichtet ist. So heißt es z. B. in einer tradierten Überlieferung: „Gold und Seide ist den Frauen meiner Umma erlaubt, den Männern dagegen verboten.“10
Für die Koraniten stellt dieses Verbot an die Männer nichts anderes als eine späte Fälschung dar, die dem Geist des Koran zuwiderläuft. Denn der Koran spreche in Bezug auf das „Erlaubte“ und „Verbotene“ eine sehr deutliche Sprache. Danach soll nur der Koran über das Verbotene und Erlaubte bevollmächtigen, wie dies aus dem folgenden Koranvers hervorgehen soll: „Sprich: ,Wer hat den Schmuck Gottes verboten, den Er für seine Diener hervorgebracht hat und die guten Speisen?‘ Sprich: ,Sie sind den Gläubigen im Diesseits erlaubt, und im Jenseits sind sie ausschließlich für sie bestimmt (7:32).'“ Aus diesem Grund wäre das Tragen von Gold und Seide uneingeschränkt auch eine erlaubte Praxis für die muslimischen Männer.11
Nach den islamischen Rechtsschulen wird der Abfall vom Islam seit Jahrhunderten mit der Todesstrafe geahndet. Nach der Fatwa (Rechtsgutachten) der Rechtsschulen, dürfen Muslime unter keinen Umständen ihre Religion wechseln. In den Hadith-Werken werden unzählige Überlieferungen dazu angeführt. Beispielweise wird in der Hadith-Sammlung „Muvatta“ von Imam Malik (gest. 795) folgender Hadith überliefert: „Diejenigen, die ihre Religion wechseln, tötet sie!12
Ähnliche Überlieferungen werden auch in den berühmten Hadith- Kompendien von al-Bukhari (gest. 869) und Muslim (gest. 875) tradiert: „Wer auch immer wechselt (den Islam als Religion und Lebensweise ablehnt), tötet ihn.“13
Eine unkritische Befolgung dieser Überlieferungen würde den Koraniten zufolge gegen jegliche grundsätzliche Prinzipien des Koran verstoßen:
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„So ermahne, denn du bist zwar ein Ermahner, du hast aber keine Macht über sie (88:21- 22).“
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„Und hätte dein Herr es gewollt, so hätten alle, die insgesamt auf der Erde sind, geglaubt. Willst du also die Menschen dazu zwingen, Gläubige zu werden? (10:99).“
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„Es gibt keinen Zwang im Glauben (2:256).“
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„Und sprich: Es ist die Wahrheit von eurem Herrn: darum lass den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will (18:29).“
Diese Überlieferung hat sehr viel Leid in der Geschichte der Muslime angerichtet. Muslime, die in eine muslimische Familie hineingeboren und sozialisiert wurden, im späteren Leben jedoch nicht von ihrer Religion überzeugt und sich bereitwillig öffentlich zu einer anderen Religion oder eben auch zu keiner Konfession bekennen wollten, mussten sozusagen heucheln, damit niemand sie wegen der Anschuldigung zur Apostasie und dadurch zum Tode verurteilen konnte.
In einigen (sogenannten) islamischen Ländern hat die Todesstrafe für Apostate in deren jeweiligen Strafgesetzbüchern Eingang gefunden. Hierbei wird ausdrücklich auf die Hadithe Bezug genommen. Der Artikel 126 im sudanesischen Strafrecht aus dem Jahr 1991 lautet wörtlich: „[…] Wer das Delikt der Apostasie begeht, wird aufgefordert, innerhalb einer vom Gericht festgelegten Frist zu bereuen. Wenn er in seiner Apostasie verharrt und nicht zum Islam zurückkehrt, wird er mit dem Tod bestraft.“
Auch gemäß Artikel 306 im mauretanischen Strafrecht von 1984 wird der Apostat ausdrücklich ermahnt, innerhalb von drei Tagen zu bereuen. Falls der Religion weiterhin der Rücken gekehrt wird, so wird die Todesstrafe unwiderruflich vollstreckt.14
Deshalb würde eine Dogmatisierung der Hadithe, zwangsweise auch eine Destruktivität der Religion herbeiführen. Dies soll überhaupt auch erklären, weshalb der Gründer der hanafitischen Rechtsschule Abu Hanifa (gest. 767), sehr kritisch mit Hadithen umging und diese kaum für die Strukturierung seiner Rechtslehre anwandte. Abu Hanifa akzeptierte keineswegs sämtliche Überlieferungen von allen Prophetengefährten, was in diesem Zusammenhang in erster Linie verdeutlichen soll, dass sie nicht alle authentisch vom Propheten stammen können: „Wenn ich im Buche Allahs und in der Sunna des Propheten nichts vorfinde, so nehme ich die Aussage eines Prophetengefährten meiner Wahl und von manchen Prophetengefährten nehme ich sie nicht. Und wenn es um (Leute der Tabi´un wie) Ibrahim an-Nahai, ash-Sha´bi, Hasan al-Basri, Ibn Sirin oder Sai´d ibn Musayyab geht, so mache ich Ijtihad, so wie sie Ijtihad machten.“15
Das soll eigentlich auch der Grund dafür sein, weshalb Abu Hanifa nicht mehr als siebzehn Hadithe als Sahih (authentisch) einstufte und verwendete.16
Wann traten die Koraniten das erste mal in der Geschichte in Erscheinung?
Es wurde und wird weiterhin noch darüber disputiert, wann genau diese Denkrichtung das erste mal historisch in Erscheinung trat. Die historischen Quellen berichten eine Diskussion zwischen dem Rechtsgelehrten as- Schafi`i (gest. 820) mit einer Gruppe von Muslimen, die die konventionellen Überlieferungen in ihrer gesamten Tragweite negierten.17 Nach der enttäuschten Begegnung mit jener Hadith- kritischen Gruppe, entwickelte as- Schafi´i eine grundlegende Methodologie der Rechtswissenschaft, indem er den außergewöhnlichen Stellenwert der Überlieferungen (Hadithe) systematisch nachzuweisen suchte. Die Konfrontation von as- Schafi´i mit den Hadith-Gegnern kann somit bis in die Zeit der Konstitutionen der Rechtsschulen zurückgeführt werden.18
Bemerkenswerterweise schildert der türkische Gelehrte Mustafa Islamoglu, dass insbesondere die unkonventionelle Grundhaltung, die Propheten-Überlieferungen komplett zu leugnen, erst in dem damals kolonisierten Indien als eine bestimmte Reformbewegung erstmals wieder in Erscheinung trat. Diese Bewegung wurde unter dem Namen- wie oben auch geschildert- der „Koraniten“ (el-Kur´an´iyyun) namhaft. Seine bekanntesten Vertreter waren: „Abdullah Cekralevi (gest. 1918), Ahmeduddin Amritsari (gest. 1936), el-Hafiz Eslem Ciracpuri (gest. 1947), Inayetullah Khan el-Mesriki (gest. 1963) und Gulam Ahmad Parviz (gest. 1985). Für Islamoglu war das Projekt der koranitischen Denkweise vor allem in Indien ohne weiteres eine Intention der Orientalisten gewesen, die vornehmlich bei den Muslimen den Gedanken hervorhebten, die Sunna (Lebensweise und Haltung des Propheten) mitsamt ihrer Orthopraxie im Angesicht der Moderne als weit überholt verwerfen zu müssen. Denn vieles aus der Tradition würde ohne weiteres im Widerspruch zum aufstrebendem 21. Jahrhundert stehen. Doch gesteht Islamoglu auch ein, dass die Schuldzuschreibung zur Förderung der „Koraniten“ nicht allein den Orientalisten anzulasten ist: „Der Gedanke eines Islam im Koran, wurde unter dem Einfluss des orientalistischen Projektes herbeigeführt. Aber die Verantwortung nur dem orientalistischen Projekt anzulasten, ist auch nicht ganz richtig.“19
Als im Jahre 1907 in der Reformzeitschrift „al- Manar“ die Formel „Der Islam ist der Koran allein“ publiziert wurde, gab es nicht nur in Ägypten, sondern aus unterschiedlichen islamischen Ländern eine heftige Reaktion gegen die Verwendung der Formel.20 Die reaktionäre Haltung der orthodoxen Muslime verdeutlichte die prekäre Lage der Koraniten, in der sie sich befanden. Deshalb war es bis zum 20. Jahrhundert nicht gerade einfach gewesen, sich als Koranit öffentlich zu bekennen. Repressalien und Ausgrenzungen konnten somit nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
Welchen Ansatz verfolgt eine historisch textualisierte Koranexegese?
Mit dem Ansatz der historischen Kontextualisierung sucht die islamische Koranexegese hauptsächlich die Nähe zu den Erstempfängern. Denn die Erstadressaten waren die unmittelbaren Zeitzeugen und erlebten die Offenbarung noch nicht als ein abgeschlossenes Buch. Sie wurden direkt mit der Offenbarung konfrontiert, so dass dieser ihre Lage wie auch ihre gesellschaftlichen Begebenheiten in seinen Kontext miteinbezog, wie dies im folgenden Koranvers ihren Ausdruck findet: „O ihr, die ihr glaubt! Fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch enthüllt würden, euch unangenehm wären; und wenn ihr danach zur Zeit fragt, da der Koran nieder gesandt wird, werden sie euch doch klar. Allah hat euch davon entbunden; und Allah ist All-verzeihend, Nachsichtig (5:101).“21
Insofern ist die vornehmliche Aufgabe einer historisch kontextualisierten Lesart, alle zur Verfügung stehenden historisch- schriftlichen Quellen für das Verständnis des Koran hinzuzuziehen und gegebenfalls mit diesem Material zu filtern und auszuwerten. Hierbei entwickelte sich ein umfangreiches Quellenmaterial, die unter anderem so aufgelistet werden kann:
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Sira- Werke (Biographie des Propheten).
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Hadith- Werke (Überlieferungen über die Taten und Aussprüche des Propheten).
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Fikh- Werke (Rechtswissenschaftliche Werke).
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Asbāb an-nuzūl- Werke (Anlässe des Herabkommens).
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Vorislamische Poesie/Dichtung.
Diverse Überlieferungen sollen auf das Primat des Kontextes der Offenbarungszeit nachdrücklich hinweisen. Von Abdullah ibn Abbas (gest. 688) wird überliefert, dass dieser die Muslime zur Interpretation des Korans eigenmächtig ermutigte, und dazu selbst die vorislamische Poesie für die Interpretation des Textes heranzuziehen:
„Wenn ihr mich über ein ungewöhnliches Wort im Koran befragt, sucht es in der Dichtung wie zum Beispiel im arabischen Diwan.“22
Selbst der zweite Kalif Umar ibn al-Chattab (gest. 644) soll die Muslime von der Kanzel aus aufgefordert haben, die vorislamische Poesie zum Tafsir des Koran heranzuziehen: „O ihr Menschen! Seht zu, dass ihr die Dschahaliyya-Dichtung zusammen trägt, weil in diesem das Tafsir (Auslegung) für euer Buch (dem Koran) vorhanden ist.“23
Vom vierten Kalifen Ali ibn Abu Talib (gest. 661) wird überliefert, dass dieser sinngemäß sagte: „Fragt mich nach dem Buche Gottes. Es gibt keinen Koranvers, weder in der Dunkelheit noch am Tageslicht, von dem ich nicht wüsste, weshalb und unter welchen Umständen er offenbart wurde“.24
Das Beispiel von Imam Ali verdeutlicht nachdrücklich das Involviertsein über die Ursache und den Kontext des Offenbarungverlaufs.
Die Gegner einer historischen Kontextualisierung des Korantextes haben grundsätzliches Bedenken an dieser Lesart. Sie gehen dezidiert davon aus, dadurch dem Historizismus ausgeliefert zu sein, wonach der Koran ausschließlich für den Kontext der Arabischen Halbinsel des siebten Jahrhunderts offenbart worden sei. Insofern würde die koranische Verkündigung ihren universalen Charakter mit solch einer Herangehensweise verwirken lassen. Der ägyptische Literaturwissenschaftler Prof. Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010) wendet jedoch ein, wonach das Koranverständnis der Erstadressaten keineswegs als endgültig oder auch absolut postuliert werden kann: „Das Verständnis der frühen Generationen der Muslime sollte keinesfalls als endgültig oder absolut begriffen werden.“25
Nach Abu Zaid hat der Koran eine spezielle sprachliche Kodierungsdynamiken angewendet, um seine Botschaft den Erstadressaten einwandfrei zu übermitteln: „Wir haben es als einen arabischen Koran hinabgesandt, auf dass ihr begreifen möget (12:1).“ Denn in einer Sprache ist zweifelsohne viel mehr als nur das gesprochene Wort enthalten. Allegorien und Metaphern, sowie die ganze Kultur mitsamt seiner Geschichte, drückt sich darin in Vertrautheit seiner herkömmlichen Sprache aus. Es gibt unzählige Beispiele im Koran, die diese Annahme bestätigen, wie z. B: „Er hat eure Ehefrauen, zu denen ihr sagt: ,Ihr seid mir verwehrt wie der Rücken meiner Mutter, nicht zu euren Müttern gemacht (33:4).'“ Die Araber auf der Arabischen Halbinsel wussten ganz genau, was damit gemeint war. Seit Generationen hinweg nahmen sie an, dass beim einmaligen aussprechen dieser Formel: „Ihr seid mir verwehrt wie der Rücken meiner Mutter“ tatsächlich unmittelbar danach die eigene Frau wie die eigene Mutter im biologischen Sinne wäre, weshalb ein sexueller Verkehr ab sofort zu unterbinden sei. Des Weiteren zeigt die Benutzung des Begriffs: „Rücken meiner Mutter“ die Verwendung einer Metapher, die die Araber in ihrem kulturellen Kontext anwandten. Deshalb plädiert Abu Zaid unverhohlen: „[…] der Koran muss, nachdem er im Lichte seines historischen, kulturellen und sprachlichen Kontextes decodiert wurde, in den Code des kulturellen und sprachlichen Kontextes des Interpreten recodiert werden.“26
Der gestrenge Ibn Taymiyya (gest. 1328) ging sogar einen Schritt weiter, indem er die rationale und damit die eigenmächtige Kommentierung (tafsir bi-r-ray) schier als Ketzerei diskreditierte: „Jeder, der von der Linie der Prophetengefährten (as-sahaba) und ihrer unmittelbaren Nachfolger (at-tabi´un) bei der Koran-Auslegung abweicht, ist im Irrtum.“27
Deshalb sind nach Ibn Taymiyyas Auffassung nur die folgenden Kriterien bei der Auslegung des Koran erlaubt:
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Das der Koran sich selbst kommentiert.
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Das der Koran durch die Sunna des Propheten kommentiert wird.
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Das der Koran im Lichte der Prophetengefährten und ihrer unmittelbaren Nachfolger kommentiert wird.28
Die klassischen Korangelehrten hielten die „Offenbarungsanlässe“ (asbab an-nuzul) für eine der grundlegendsten Instrumente bei der Auslegung der Schrift. Dadurch konnten ausschlaggebende Informationen gesammelt werden, vor allem weshalb und unter welchen Umständen ein Koranvers geoffenbart wurde. Die Kritiker der „Offenbarungsanlässe“ bemängeln jedoch die zur Verfügung stehenden Materialien, weil nur ein Bruchteil der historischen Quellen schriftlich aufgezeichnet und bis in unsere Tage tradiert wurden. In al-Bukhari findet sich hierfür im 60. Buch der Titel mit der folgenden Überschrift „Buch der Kommentare“. Dort werden nur 358 Erläuterungen des Propheten zu fast ebenso vielen Koranversen aufgeführt, dass macht sage und schreibe 5,7 Prozent aller Koranverse aus.29
Auch in den klassischen Korankommentaren wie z.B. die von al-Tabari (gest. 923), gehen nicht alle Überlieferungen bei der Erläuterung des Koran, anhaltend auf den Propheten selbst zurück. In seinem monumentalen Werk „Dschami al-Bayan´an ta´wil ay al-Quran“ werden geradewegs 3000 Überlieferungen, die freilich bis auf den Propheten zurückgehen sollen aufgezeichnet. Das macht bei den Gesamtüberlieferungen in diesem Werk gerade mal 7,8 Prozent aus. Aus diesem Grund können die Offenbarungsanlässe bei dem überwiegend größten Teil der Koranverse keine Auskunft über die Hintergründe und deren Anlässe geben.30
Die Methodik der Offenbarungsanlässe wird auch dahingehend kritisch betrachtet, weil es die Gefahr mit sich bringt, als sei die Offenbarung nur spezifisch und ursächlich für das siebte Jahrhundert relevant. Dazu Kommentiert Dr. Murad Wilfried Hofmann den folgenden Satz: „Es wäre allerdings eine Übertreibung, den Koran nur im Lichte der Offenbarungsanlässe auslegen zu wollen, als seien sie für die Offenbarung ursächlich gewesen oder schränkten ihre Bedeutung auf den konkreten Anlass ein“.31
Warum kann allein der Koran nicht für die kontextuelle Lesart ausreichen?
Weil dadurch grundsätzliche Bestandteile und Informationen der Religion verloren gehen. Im Koran wird darauf hingewiesen, dass, bevor die Kaaba als Gebetsrichtung obligatorisch vorgeschrieben wurde, die Muslime ihre Gebete in eine andere Gebetsrichtung ausführten, wie dies aus den folgenden Versen ersichtlich wird:
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„Die Toren unter den Leuten werden sagen: Was hat sie von der Gebetsrichtung (Qibla), die sie (bisher) eingehalten hatten, abgebracht (2: 142)?“
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„Und Wir haben die Qibla, nach der du dich bisher gerichtet hattest, nur gemacht, damit Wir denjenigen, der dem Gesandten folgt, von demjenigen unterscheiden, der auf seinen Fersen eine Kehrtwendung macht (2: 143).“
Im Koran Kommentar von Muhammad Asad werden die Verse folgendermaßen kommentiert: „[…] Nach dem Auszug nach Medina fuhr er fort gen Norden zu beten, mit Jerusalem als seiner einzigen Qibla (Gebetsrichtung). Etwa sechzehn Monate nach seiner Ankunft in Medina erhielt er jedoch eine Offenbarung (Vers 142-150), welche die Kaaba endgültig als die Qibla der Anhänger des Koran einrichtete […]“.32
Ohne die tradierten Überlieferungen, würde die Information über die damalige und erste Qibla in Jerusalem vollkommen untergehen. Denn es wird nirgendwo im Koran ausdrücklich dazu Bezug genommen, dass Jerusalem in der Anfangszeit die Gebetsrichtung der ersten Muslime war.
Auch die nachfolgende Koranverse erläutern nicht annähernd die Kaaba als die neue Gebetsrichtung dar, das sie nicht explizit beim Namen in diesem Zusammenhang erwähnt werden:
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„Wir sehen, wie dein Gesicht sich dem Himmel suchend zukehrt, und Wir werden dich nun zu einer Qibla wenden, mit der du zufrieden sein wirst. Wende also dein Gesicht hin zu dem Unverletzlichen Haus der Anbetung; und wo immer ihr auch seid, wendet eure Gesichter in ihre Richtung (2:144).“
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„Und von wo du auch herkommst, wende dein Gesicht zu dem Unverletzlichen Haus der Anbetung; denn dies ist gewiss die Wahrheit von deinem Herrn“ (2: 149).
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„Und von wo du auch herkommst, wende dein Gesicht zu dem Unverletzlichen Haus der Anbetung. Und wo immer ihr auch seid, wendet eure Gesichter in ihre Richtung (2: 150).“
Hier fragt man sich allen ernstes den „Koraniten“, wie man für die Gebetsrichtung auf die Kaaba kommt, ohne die jeglichen Überlieferungen zu konsultieren? Der Koran betont wörtlich an keiner Stelle die Kaaba als die Gebetsrichtung für die Gläubigen zu bestimmen. Einer der bekanntesten und zeitgenössischen Koraniten wie Hakki Yilmaz, plädiert deshalb, dass eine Gebetsrichtung nach Kaaba im Widerspruch zu 2: 115 steht:
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„Und Gott gehört der Osten und der Westen; wo immer ihr euch also hinwendet, dort ist das Antlitz Gottes (2: 115).“
Hiernach gäbe es keine festgelegte Gebetsrichtung wie die der Kaaba. Noch interessanter scheint die subjektive Manipulation von Yilmaz zu sein. Danach würde der Begriff „Qibla“, keineswegs für die Gebetsrichtung der Gläubigen impliziert sein. Die Qibla würde nur ein Synonym für ein „strategisches Ziel“ bedeuten. Selbst in seiner Koranübersetzung benutzt Yilmaz für die Qibla nicht wie gewöhnlich die Gebetsrichtung als solche, sondern übersetzt sie ungeachtet aller Überlieferungen als: „in Richtung des strategischen Zieles.“33
Für ein weiteres Beispiel einer subjektiven Koran Auslegung und Entstellung (tahrif) des Wortlautes, kann der nachfolgende Koranvers aufgeführt werden:
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„Ich werde ihn der „Saqar“ aussetzen. Und was lässt Dich wissen, was „Saqar“ ist? Sie lässt nichts übrig und lässt nichts bestehen (74: 26-27).“
Auch hier schlägt Hakki Yilmaz eine alternative Lesart für den Begriff „Saqar“ für das entsprechenden Zeitalter vor. So würde „Saqar“ linguistisch und adäquat „Computer“ bedeuten und sollte deshalb auch so in den Koran Übersetzungen analog als „Saqar“ und „Computer“ übertragen werden.34
Hiermit versucht Yilmaz konvulsiv nachzuweisen, indem der Koran bereits schon vor über 1400 Jahren das Zeitalter der Digitaltechnik angekündigt hätte. Liest man jedoch die Koranverse im Zusammenhang innerhalb der Sure, so wird es nicht unschwer sein, den Begriff „Saqar“ als Höllenfeuer bekömmlich zu identifizieren. Ein subjektives Koranverständnis kann den Koran in der Tat alles sprechen lassen und in die Schrift hinein projizieren, was man persönlich zu beabsichtigen sucht. Prof. Ömer Özsoy bemerkt dazu: „Fängt man einmal an, den Koran als übergeschichtlichen Text zu lesen, führt das zwangsläufig dazu, ihn über jeden möglichen Gegenstand sprechen zu lassen; und das ist nichts anderes als ,Entstellung (tahrif)‘.35
Zudem gibt es unzählige Koranverse, dessen Wortlaut nicht unbedingt auf dem ersten Blick erschlossen werden kann. Sie kann durchweg sogar zum negativen Verständnis des Lesers herbeiführen, weil der historische Anlass nicht im Wortlaut des Textes explizit zu erschließen ist, wie dies unter anderem aus der Sure 64 Vers 14-15 demonstriert werden kann: „O ihr, die ihr glaubt, wahrlich, unter euren Frauen und Kindern sind welche, die euch feindlich gesonnen sind; so hütet euch vor ihnen […] „Eure Reichtümer und eure Kinder sind wahrlich eine Versuchung […].“
Man beachte hier im Vers, dass Frauen und Kinder als eine ontologische Versuchung für den Mann impliziert und dementsprechend negativ assoziiert werden. Viele frauenfeindliche Gelehrte würden sich durch den oben zitierten Vers bestätigt fühlen, indem die Frauen beständig nichts anderes als „Fitna“ (Versuchung für die Männer) sind. Die Nachwirkungen solcher Textpassagen können nicht unbeachtet gelassen werden. Schon im 10. Jahrhundert schrieb der Koranexeget Abu´l Lays Samarkandi (gest. 983) in Bezug zu Zina (Ehebruch), indessen nur die Frauen allein für diese Schandtaten verantwortlich seien und die Männer unweigerlich zur Fitna eines Ehebruchs anstacheln würden: „Denn es sind die Frauen, die die Männer zum Ehebruch (zina) verleiten. Sobald die Frauen sich beherrschen, würde der unerlaubte Geschlechtsverkehr komplett ausgerottet werden.“36
Zum Offenbarungsanlass des oben zitierten Koranverses überliefert Mukatil ibn Sulayman (gest. 767) die folgende Begebenheit: „Der Vers wurde wegen „Auf ibn Malik al-Ashdja´i offenbart. Als al-Ashdja seinen religiösen Pflicht nachkommen wollte um auszuwandern, sagten seine Frau und seine Kinder ihm den folgenden Satz: „Bitte gehe nicht im Namen Gottes. Bitte verlasse deine Frau und Kinder sowie dein Eigentum nicht. Wenn du jedoch gehen wirst, so werden wir ganz bestimmt zu Grunde gehen. Wir würden keinen Unterhalt mehr haben und würden in Bedrängnis kommen“. Woraufhin einige dann doch nicht auswanderten und einige eben doch fortgingen“.37
Nach der Methodologie der Rekontextualisierung gäbe es somit keinen Anlass für einen Schuldzuspruch aller Frauen auf der Welt. Wenn der historische Kontext nicht außer Acht gelassen wird, so könnte auch die betreffende Textpassage keinesfalls für eine überzeitliche Diffamierung der Frauen verstanden werden, wonach die Fitna (Versuchung) bereits in ihrem Schöpfungsprinzip angelegt sei. In dem zitierten Koranvers, fehlen jegliche Informationen über den historischen Anlass. Deshalb wäre es unabdingbar zu prüfen, wann und unter welchen Umständen ein Koranvers offenbart wurde. Erst dann kann es ferner möglich sein, entgegen einer Sinn-Entstellung eines Koran-Verständnisses wie die der Erstadressaten im siebten Jahrhundert, präventiv vorzugehen. Dadurch wird zudem kaum noch möglich sein, den Koran als Spielball einer bestimmten Ideologie ins Feld zu führen.
In der Sure at-Tawba erwähnt der Koran von heiligen Monaten, in denen es unter allen Umständen verboten ist, einen Krieg mit seinen Feinden zu führen. Erst wenn die heiligen Monate wieder vergangen sind, können die Kampfhandlungen bei einem bereits zuvor geführten Krieg, weiter fortgesetzt werden: „Und wenn die heiligen Monate vorüber sind, tötet jene, die etwas anderem neben Gott Göttlichkeit zuschreiben, wo immer ihr auf sie stoßt (Koran 9:5).“ In der Zeit der Dschahaliya (vorislamische Sitte) galten die Monate Muharam, Radschab, Dhu-l-Qa´da und Dhu-l-Hidschscha als besonders heilige Monate, indem es unter keinster Weise erlaubt war, Zwietracht und Antagonismen fortzuführen. Sie waren für die Polytheisten vielmehr eine Zeit des Andachts gewesen. Interessanterweise hinterfragte der Koran die vorislamische Sitte nicht, im Gegenteil, er bestätigte sogar ihre Funktion als friedensstiftende Monate.38 Ohne die historischen Berichte dazu, würden sämtliche Informationen über den Hintergrund der vorislamischen Zeit fehlen. Auch an dieser Stelle kann berechtigt den Koraniten die Frage gestellt werden, wie sie auf solche Hintergrund Informationen gelangen können, wo sie doch nichts anderes als nur den Koran akzeptieren?
Ist wirklich alles im Koran dargelegt worden?
Auf dem ersten Blick scheinen die Koraniten recht zu haben, wenn sie die nachfolgenden Koranverse eifrig und isoliert zitieren. Man wirft ihnen zuweilen auch vor, sich der gleichen Methodik wie der Salafisten zu bedienen, indem die Koranverse einzeln aus den zusammenhängen gerissen, umso vor allem ihre „Nur-Koranitische“ Herangehensweise nachhaltiger durchzusetzen.39 Folgende Verse werden von Koraniten beliebig ins Feld geführt:
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„Es ist keine erdichtete Rede, sondern eine Bestätigung dessen, was ihm vorausging, und eine deutliche Darlegung „aller Dinge“ (kulli šayˈin) und eine Führung und eine Barmherzigkeit für ein gläubiges Volk (12:111).“
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„Und wir haben die Schrift auf dich hinabgesandt, „um alles“ (kulli šayˈin) klarzulegen, und als Rechtleitung, Barmherzigkeit und Frohbotschaft für die, die sich (uns) ergeben haben (16:89).“
Hiernach wäre der entscheidende Begriff im Vers: „um alles“ (kulli šayˈin) die Garantie dafür, dass eben alles geregelt und deshalb auch keine andere Quelle für das Verstehen des Koran erforderlich sei. Was ist jedoch mit „um alles“ (kulli šayˈin) denn tatsächlich gemeint? Kann daraus wirklich geschlussfolgert werden, dass alles ausschließlich im Koran dargelegt und dementsprechend die umfangreich tradierten Sekundärquellen für nichtig zu erklären? Um verstehen zu wollen, was genau und welche Bandbreite die zur Diskussion stehenden Begriff „kulli šayˈin“ umfassen, so wäre doch primär die vornehmliche Aufgabe zuerst im Koran nachzuschauen, in welchem Kontext er sie gebraucht hat. In den nachfolgenden Koranversen kommen die gleichen Begriffe in diversen Suren nochmals vor:
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„Salomo ward Davids Erbe, und er sprach: ,O ihr Menschen, der Vögel Sprache ist uns gelehrt worden; und alles (kulli šayˈin) ward uns beschert.‘ Das ist fürwahr die offenbare Huld (27:16).“
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„Wir haben ihm (Dhu-l-Qarnain) Macht auf Erden und die Mittel zu allem (kulli šayˈin) gegeben“ (18:84).
Im ersten Vers wird vom Propheten Salomon berichtet, wohin dieser sagte, dass Gott ihm alles beschert (kulli šayˈin) hatte. Wenn „kulli šayˈin“ tatsächlich alles im wörtlichen bedeuten sollte, weshalb gelang es Salomon dann nicht seinen Tod aufzuhalten? Wenn ihm angeblich alles „kulli šayˈin“ gewährt wurde, so müsste er durchaus auch die Macht von Gott erhalten haben seinen eigenen Tod als unsterblich herbei zu führen: „Und als Wir über ihn den Tod verhängt hatten, da zeigte ihnen nichts seinen Tod an außer einem Tier aus der Erde, das seinen Stock zerfraß […] (Koran 34:13).“
Im zweiten Vers bekommt Dhu-l-Qarnain offensichtlich auch alle Macht und Mittel auf Erden.40 Dennoch hat er auch nicht seinen eigenen Tod außer Kraft setzten können. Wenn jemandem doch alle Macht und geradewegs alles im herkömmlichen Sinne beschert worden ist, so müsste dementsprechend alles in die Tat umzusetzen sein. Diese Beispiele zeigen jedoch auf, wonach mit „kulli šayˈin“ nicht alles im wörtlichen Gebrauch gemeint sein kann. Deshalb ist die Methodik des selektiven Zitierens der „Koranitan“ nicht angebracht, da der Kontext des Inhalts völlig außer Acht gelassen wird.
In seinem Werk „Mecazul´l-Quran“ erwähnt Abu Ubayda Ma´mer ibn ul-Muthanna (gest. 825) ein Dialog zwischen Umar ibn al-Chattab (gest. 644) und ibn Abbas (gest. 688), in dem überliefert wird: „Bestürtzt fragte Umar seinen Gefährten ibn Abbas: „Obwohl die Qibla, das Buch und die Religion eins sind, warum gibt es dennoch Meinungsverschiedenheiten in unserer Umma?“ Woraufhin Abbas sagte: „Wir wussten genau auf wem und weshalb die Koranverse offenbart wurden. Aber jetzt wissen sie es nicht. Deshalb interpretiert ihn jetzt jeder nach seinem eigenen Gutdünken. Wenn sie jedoch auch wie wir wüssten, über wem und weshalb die Verse offenbart wurden, so würden auch sie, ganz bestimmt keine Meinungsverschiedenheiten haben.“41
Diese Anekdote beschreibt prägnant die eigentliche Ursache, wie vor allem eigenwillige Interpretationen zustande kommen können. Hiernach liegt es primär daran, dass der historische Kontext im Verstehen des Textes, nicht zur Unterstützung herangezogen wird und somit Tür und Tor für die Entstellung jener ursprünglichen Bedeutung erheblich beiträgt.
1 Die Koraniten bezeichnen sich durchweg auch als: „Nahnu´l-Kur´aniyyun (Wir Koraniten) wie z.B. Mohammed Tafik Sidki (gest. 1920). Vgl. hierzu: Cagdas Islam Düsüncesi ve Kur´ancilik, S. 134, Mustafa Öztürk, Ankara Okulu 2013.
Fontäne Verlag, 1. Auflage 2009.
41 Zitiert aus: Hasan Elik, Tevhit Mesaji, Özlü Kur´an Tefsiri, S. 28, 1. Auflage 2013.
Quelle: http://antikezukunft.de/2015/03/22/der-koran-und-die-koraniten/